BETROFFENENBEIRAT REGENSBURG

Wir unterstützen und begleiten Opfer von Missbrauch in der Diözese Regensburg

Marktgemeinde Eslarn

Presseerscheinungen

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Der Betroffenenbeirat Regensburg beschäftigt sich derzeit unter anderem mit dem Anliegen der Umbenennung der Georg-Zimmermann-Straße in der Gemeinde Eslarn. Der frühere römisch-katholische Priester, Kirchenmusiker und Diözesanmusikerdirektor Georg Zimmermann hat sich durch die Gründung verschiedener musischer Einrichtungen in der Gemeinde Eslarn verdient gemacht. Für die Gründung der "Grenzland-Musikschule" wurde er 1992 posthum mit einer Tafel im Rathaus-Foyer vom Heimatverein "Die Eslarner in München e. V." geehrt worden. 1993 wurde in Eslarn zu seinen Ehren eine Straße nach ihm benannt.

Er ist zeitgleich ein verurteilter Missbrauchstäter, der aufgrund fortgesetzten sexuellen Missbrauchs von Abhängigen und Kindern zu 20 Monaten Haft inhaftiert wurde. Eine gutachterliche bestätigte verminderte Schuldfähigkeit lag vor, mehrere gleichlautende Straftaten wurden nicht weiter verfolgt.

Der Betroffenenbeirat Regensburg setzt sich derzeit für eine Umbenennung der Straße ein. Im Zuge der Aufarbeitung im Bistum Regensburg hat es sich der Beirat nach Meldung von Betroffenen zur Aufgabe gemacht, die Gemeinde Eslarn auf den vorliegenden Sachverhalt aufmerksam zu machen und eine Umbenennung der Straße zu erreichen. Der Auftrag zur Aufarbeitung im Bistum Regensburg geht auf eine gemeinsame Absichtserklärung (GemErk) zwischen der staatlichen Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) und Vertretern der Deutschen Bischofskonferenz zurück, die am 28.04.2020 formuliert wurde, um transparente, unabhängige sowie umfassende Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in den deutschen (Erz-)Diözesen zu leisten, mit der ausdrücklichen Einbindung von Betroffenen. Nach heutigen Aufklärungs- und Aufarbeitungsstandards bedeutet bereits die Benennung der Straße nach Georg Zimmermann 1993 einen massiv ethisch und moralisch verletzenden Umstand für Betroffene, da zu jenem Zeitpunkt bereits Kenntnis über Herrn Zimmermanns Verurteilung und Inhaftierung (1969) bestand. Insbesondere aber der diesjährige Verlauf (2024) irritiert und verletzt Betroffene und den Betroffenenbeirat Regensburg erneut zutiefst: die Verweigerung zur Kooperation und weiter sogar das entschlossene Bestehen auf Beibehaltung des Straßennamen einschließlich eines eigens dafür organisierten Bürgerbegehrens nach Aufruf des Betroffenenbeirates Regensburg an die Gemeinde Eslarn, deren verantwortliche Entscheidungsträger und die Straßenbewohner trotz Kenntnis über die kriminelle Vergangenheit Georg Zimmermanns.

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Mediale Berichterstattung

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Presseberichte sowie Berichte in Funk und Fernsehen über die derzeitige Situation finden Sie hier.

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Daten und Informationen

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Im Folgenden finden Sie umfangreiche Informationen zur Person und Vita Georg Zimmermanns, ein Schreiben des Monsignore Dr. Roland Batz des Bistum Regensburg sowie eine Chronologie der Geschehnisse aus Sicht des Betroffenenbeirats Regensburg.

Buchempfehlung des Monats

Juni

von Richard Nusser

Buchempfehlung des Monats Oktober 2024

von Richard Nusser

Buchempfehlung des Monats .Oktober 2024

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Sie erhalten hier Buchempfehlungen, entstanden aus eigener Lektüre und insofern natürlich subjektiv. Allerdings entsprechen Bücher unserem Wunsch als Betroffenenbeirat zu lernen, wechselnde Perspektiven einzunehmen, Erfahrungen zu machen, uns zu informieren, mitzureden, zu argumentieren. Dazu will diese Seite anregen. Wir beschränken uns nicht auf bestimmte Formen oder Themen, sondern gehen von der unerschöpflichen Vielfalt des gedruckten Wortes aus.

Schreiben und lesen sind die Fähigkeiten des Menschen, die Voraussetzung für Demokratie und Freiheit,

Wissen und Information, Tradition und Gerechtigkeit sind. Sie sind die Grundlagen der Kultur und der Bildung und insofern auch eine Basis des Menschseins.

Hubert Wolf, Der Unfehlbare, Pius IX

und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jhdt.

München 2020

 

Hubert Wolf ist Professor für Kirchengeschichte in Münster,

als Träger des Leibniz–Preises gehört er zu den herausragenden Wissenschaftlern Deutschlands.

Der Autor verfasste die Biographie des Papstes Giovanni Maria Mastai Ferretti aus Senigallia (1792 – 1878), Pius IX, der die längste Herrschaftszeit eines Papstes innehatte (1846 – 1878).

 

In Rezensionen zu diesem Werk wird darauf hingewiesen, dass die Kirche der Gegenwart ohne die Regierungszeit Pius IX nicht zu verstehen ist. Insofern liefert Hubert Wolf mit der Biographie Pius IX ein entscheidendes Kapitel zur Kirchengeschichte. Denn die Politik von Papst Pius IX wirkt bis in unsere Gegenwart.

 

Drei inhaltliche Bereiche sind hervorzuheben:



Historisch gesehen steht die Zeit Pius IX parallel zum Risorgimento, der Gründung des Nationalstaates Italien durch Giuseppe Garibaldi und der Beendigung des Kirchenstaates in seinen bisherigen Grenzen. Dagegen kämpfte Papst Pius IX vehement an, indem er die Stellung Mariens, der Gottesmutter, als Beschützerin des Kirchenstaates heraushob, als er das Fest Mariä Empfängnis mit der Dogmatischen Bulle Ineffabilis Deus (1854) für den 8. Dezember verkündete, und zwar als Dogma der Unbefleckten Empfängnis Mariens (Immaculata conceptio) auf Grund eigener Macht ohne Zustimmung der Kirche (consensus ecclesiae). Von dieser Sonderstellung Mariens in der Heilsgeschichte erhoffte sich der Papst die Hilfe der Gottesmutter für den Erhalt des Kirchenstaates. Das Ergebnis war allerdings ein anderes: Es ergaben sich zunehmend Marienerscheinungen in Europa, z.B. im südfranzösischen Lourdes 1858.

 

Im Jahre 1864 am 8.12., dem Tag der Unbefleckten Empfängnis Mariens, veröffentlichte der Papst die Enzyklika Quanta cura, an dessen Ende der so genannte Syllabus errorum steht: Darin verdammt der Papst die Moderne und alle liberalen Ideen, besonders auch die der französischen Revolution: Besonders Satz 80 wird verdammt: „Der Römische Bischof kann und soll sich mit dem Fortschritt, mit dem Liberalismus und der modernen Kultur versöhnen und anfreunden.“

Der Freiburger Kirchenhistoriker Franz Xaver Kraus schreibt zu diesem Syllabus Errorum in seinem Tagebuch: „Ich brauche kaum zu sagen, wie unendlich wehmütig und traurig mich diese Enzyklika gemacht hat….., sie ist zum Teil gegen alle diejenigen gerichtet, die seit einem halben Jahrhundert die moderne Welt mit der Kirche zu versöhnen strebten,….gegen alle, die an die Möglichkeit glaubten, das Europa des 19. Jahrhunderts könne wieder sich aussöhnen mit Rom. Die Enzyklika ist … ein Sieg der reaktionären, neuscholastischen Partei, aber ein Sieg, von dem man sagen wird: Noch so ein Sieg, so ist alles verloren. Die Feinde der Kirche triumphieren über diese Zensur; denn sie haben nun, was sie wollten: den Beweis, dass die Katholische Kirche der Todfeind der Freiheit, der Wissenschaft und des Fortschrittes ist.“

 

I. Vatikanisches Konzil 1870. Mit den beiden Dogmatischen Konstitutiones Dei filius und Pastor aeternus verkündete der Papst das Unfehlbarkeitsdogma (Infallibilität) für den Papst, wenn er ex cathedra spricht, und setzt die Basis für das Universale Jurisdiktionsprimat: die absolute Macht und Amtsgewalt des Papstes über Lehre und Recht. Jede Kontrolle des Papstes ist aufgehoben, Gewaltenteilung ist nicht möglich. Alle anderen Kirchenmitglieder (von den Kardinälen bis zu den Laien) sind bloße Untertanen, die gehorchen, da der Papst das höchste Lehramt und die äußerste Rechtsbefugnis innehat. Das gilt bis heute. Deshalb ist der synodale Weg ohne Kirchenspaltung (Schisma) nicht durchzusetzen, da die letzte Entscheidung immer der Papst hat.

 

Das Werk von H. Wolf ist auch für Nicht-Theologen verständlich geschrieben, sehr durchschaubar gegliedert und vermag Spannung zu erzeugen, indem er den Leser mitnimmt in das Innere dieses Machtapparates und zeigt, wie sich Kirchengeschichte entwickelt. Ein Mann im Bewusstsein eigener Machtvollkommenheit errichtet nach der Französischen Revolution ein neues Kirchenverständnis, das abgeschottet ist von Moderne und Demokratie und gleichsam zum Bollwerk gegen die Modernisten und Traditionalisten innerhalb der Kirche wird: Pius IX. „Io, io sono la tradizione, io, io sono la Chiesa“ (Ich, ich bin die Tradition, ich, ich bin die Kirche.).

 

Dieses Werk von Hubert Wolf ist eine meisterhaft erzählte Biographie und allen interessierten Leserinnen und Lesern zu empfehlen, die verstehen wollen, warum das Papsttum die katholische Kirche so durchdringend prägt.

Vergangene Empfehlungen

Mai

Cordelia Edvardson, Gebranntes Kind sucht das Feuer.

Mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann.

Neu übersetzt aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein, München 2023

Schwedische Originalausgabe Stockholm 1984;

deutsche Erstausgabe München 1986.

 

„Eines der großen Werke der Holocaust - Zeugenschaft“ (Daniel Kehlmann)

Triggerwarnung!

 

Die Autorin Cordelia Edvardson (1929 - 2012) ist die uneheliche Tochter der Schriftstellerin Elisabeth Langgässer (1899 - 1950), die, christlich orientiert, als Halbjüdin mit ihren Werken dennoch dem Nationalsozialismus und Hitler nahe stand.

 

Die Autorin C.E. nennt ihr Buch Roman, obwohl es ihre Geschichte ist, die sie in eindrücklicher Klarheit und sprachlicher Kunstfertigkeit erzählt.

Es entsteht ein beklemmender Blick ins Innere der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie aus der Perspektive eines 14jährigen Mädchens, der Autorin. Zugleich ist es eine Geschichte von Mutter und Tochter in schwierigster Zeit.
Von ihren Eltern her ist die Autorin Halbjüdin; obwohl das Mädchen als Halbjüdin einigermaßen geschützt ist, kommt es zu einer entscheidenden Situation zwischen Mutter, Tochter und der Gestapo. Sie soll unterschreiben, dass sie Volljüdin ist, sonst wird ihre Mutter der Verfolgung durch die Nazis ausgesetzt. Ihre Mutter billigt es, ja verlangt es, und Cordelia unterschreibt. Die Mutter bleibt deshalb weiterhin unangetastet, aber das Mädchen wird in die Konzentrationslager Theresienstadt und Auschwitz gebracht. Diese Zeit der Hölle, die sie dort erwartet, beschreibt sie in unvorstellbarer Eindringlichkeit. „Wer solcher Grausamkeit unterworfen war, hörte darüber auf, als Individuum zu existieren“ (D. Kehlmann).

Die Autorin aber überlebt diese Hölle, und es gelingt ihr, nach dem Krieg in Schweden und Israel ihr Leben zurückzubekommen.

 

Einmal trifft sie ihre Mutter nochmals, als diese von ihr verlangt, ihre Eindrücke aus den KZ ihr genau zu schildern, weil sie diese für einen Roman brauche – eine unglaubliche, gefühllose Umgangsweise mit der eigenen Tochter.

Erst 35 Jahre nach Kriegsende konnte Cordelia Edvardson ihr Buch schreiben. Um Distanz zu sich selbst zu finden, benennt die Autorin sich mit dem Wort „das Mädchen“, nicht mit „ich“. Auch deshalb, weil ihre Geschichte stellvertretend ist für unzählige weitere Kinder, Mädchen und Jungen, in der Terrorzeit des Nationalsozialismus in Deutschland.

April

Doris Wagner (verh. Reisinger)

Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche, Freiburg 2019

 

Die Autorin gehörte nach dem Abitur acht Jahre der „Geistlichen Familie Das Werk“ an. Auf der Basis eigener Erfahrungen aus dieser Zeit und mit vielfältigen Schilderungen von Betroffenen behandelt sie das Thema Spiritualität in allen Aspekten.

Doris Reisinger hat Theologie und Philosophie studiert, wurde promoviert, ist an verschiedenen Universitäten im In- und Ausland tätig und veröffentlicht Bücher und Aufsätze zum Thema Missbrauch. Bekannt wurde sie durch ein live übertragenes Gespräch mit dem Wiener Kardinal Schönborn über ihre Missbrauchsgeschichte.

Im ersten Abschnitt ihres Buches definiert die Autorin den Begriff Spiritualität, grenzt ihn von Esoterik genau ab und sieht in Spiritualität vor allem das Bedürfnis des Menschen nach Sinn: Spiritualität ist Sinnstiftung; das ist die Fähigkeit, Dingen und allem eine Bedeutung zu geben.

Spiritualität ist weder unbedingt religiös noch irrational, sondern ist zentraler Teil des denkenden und fühlenden Menschen.  Der Mensch soll spirituell selbst bestimmt und handlungsfähig sein. Jedoch ist nicht jeder Mensch fähig, sich alle Ressourcen der Spiritualität zu erschließen; er braucht Hilfe. Genau hier kann sich aber ein Einfallstor für Missbrauch auftun. Die Autorin beschreibt drei Formen von geistlichem Missbrauch: Spirituelle Vernachlässigung – spirituelle Manipulation – spirituelle Gewalt; dazu gehören dann auch verschiedene Formen einer schlimmen Ausbeutung.

Wichtig ist nun: Wie kann man spirituellen Missbrauch erkennen und wie kann man sich davor schützen. Doris Reisinger nennt als grundlegende Fähigkeit die spirituelle Selbstbestimmung, die es ermöglicht, ohne Autoritäten und Zwängen die Sinnfindung und Sinngebung im eigenen Leben autonom vornehmen zu können.In einem Schlussteil wird der Umgang der Kirche mit Spiritualität erläutert und die Gefahren werden aufgezeigt, die sich aus dem autoritären Selbstverständnis und Machtbewusstsein der Kirchenvertreter ergeben können.

Die Zitate von Betroffenen, mit denen Frau Reisinger ihre Darstellung erläutert und illustriert, sind erschütternd und unvorstellbar. Dieser dadurch hergestellte Perspektivenwechsel führt zur erwünschten Klarheit beim Leser.


„Es ist die Macht der Opfer, nicht länger zu schweigen.“ Carolin Emcke

Sie erhalten hier Buchempfehlungen, entstanden aus eigener Lektüre und insofern natürlich subjektiv. Allerdings entsprechen Bücher unserem Wunsch als Betroffenenbeirat zu lernen, wechselnde Perspektiven einzunehmen, Erfahrungen zu machen, uns zu informieren, mitzureden, zu argumentieren. Dazu will diese Seite anregen. Wir beschränken uns nicht auf bestimmte Formen oder Themen, sondern gehen von der unerschöpflichen Vielfalt des gedruckten Wortes aus.

Schreiben und lesen sind die Fähigkeiten des Menschen, die Voraussetzung für Demokratie und Freiheit, Wissen und Information, Tradition und Gerechtigkeit sind. Sie sind die Grundlagen der Kultur und der Bildung und insofern auch eine Basis des Menschseins.

Doris Reisinger (Hg.)


Gefährliche Theologien

Wenn theologische Ansätze Machtmissbrauch legitimieren

Regensburg 2021

 

Diesem Band liegt eine Tagung zugrunde: Machtkritik durch Theologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main im Jahre 2020; wegen Corona in reduzierter digitaler Form, nun allerdings in einem erweiterten Band zusammengefasst. Die Herausgeberin und Autorin eines Aufsatzes (S. 58 – 76) kennen wir schon von der Buchempfehlung im April.

 

Der Titel ist doppelt zu verstehen, wie Frau Reisinger im Eingang vermittelt: Zum einen sind theologische Ansätze, Begriffe und Argumentationsmuster, die Gewalt gegen Menschen direkt oder indirekt befördern, verschleiern oder gar rechtfertigen, gefährliche Theologien. Zum anderen sind theologische Argumentationen, insofern sie den theologischen Unterbau von Machtmissbrauch entlarven, sichtbar machen und problematisieren, um gefährliche Theologien zurückzudrängen, für die gefährlich, die ein Interesse genau an solcher Theologie haben (s. den Band von Ute Leimgruber (Hg.), Empfehlungsbuch im September; daraus den Essay von Hildegard König: Wenn Gottes Wort entweiht wird…). Die Herausgeberin führt in ihrer Einleitung mit dem Titel Interdisziplinäre Denkschneisen in einer knappen aber präzisen und gut verständlichen Darstellung durch alle Aufsätze den Leser in den Kern des jeweils bearbeiteten Problems, um dem Leser eine Auswahl zu ermöglichen. Denn das Buch ist nicht von vorne bis zum Ende zu lesen, sondern in Auswahl.

Meine Auswahl begann mit dem Aufsatz von Frau Reisinger, der für uns Betroffene sofort ins Zentrum unserer Problematik führt: Religiöse Eigenlogik und ihre Konsequenzen. Eine Analyse der katholischen Mehrdeutigkeit des Missbrauchsbegriffs, S 58 – 76.

Eine Diskussion führt nur dann zu Ergebnissen für beide Gesprächsteilnehmer, wenn beide Seiten dieselbe Definition der wichtigen Begriffe haben. Frau Reisinger geht von einer zweifachen Bedeutung des Missbrauchsbegriffs aus: Zum einen Missbrauch in antonymer Bedeutung: Missbrauch von Steuergeldern, eines Amtes, einer Sache. Und zum anderen Missbrauch in personenbezogener Bedeutung als Eingriff in den Intimbereich einer Person gegen deren Willen, eine Verletzung der Autonomie dieser Person. Diese Verletzung setzt als Beurteilungsgrundlage die moderne Gesellschaft voraus: Grundlage ist das Ideal der verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmung, der Autonomie. Diese Autonomie ist der katholischen Sittenlehre nicht innewohnend, ja fremd, da jedes Verhalten durch die Kirche und ihre Sittenlehre vorgeschrieben ist. Das heißt, dass moderne weltliche Ordnungen dem Leitprinzip der Freiheit und Gleichheit folgen, während die kirchliche Ordnung dem Leitprinzip der Wahrheit und des Seelenheils folgt. Und deshalb findet sich im Kodex des kirchlichen Rechts das Wort Missbrauch nur in seiner antonymen Verwendung. Warum? Kurz gesagt, weil der Täter geschützt werden muss, da er sein Amt missbraucht, gegen das Gehorsamsgebot verstößt oder gegen das Enthaltsamkeitsgebot. Missbrauch wird eingeordnet unter klerikale Amtspflichtverletzungen. Der Betroffene kommt nicht als Opfer vor, weil sein Heil durch die Tat ja nicht in Gefahr kommt. Welche Absurdität.

Auch der nächste Aufsatz hat mich sehr beeindruckt: Georg Essen: In guter Verfassung? Ein rechtssoziologischer – dogmatischer Versuch über Macht, Recht und Freiheit. (S. 77 . 91). Man beachte etwa die Teil - Überschriften: Kirche in den Autonomiewelten der Moderne (S.77 ff.) oder Ordnung der Kirche – Ordnung der Freiheit (S. 99 – 91). Zitat: Die gegenwärtige Krise der römisch – katholischen Kirche dürfte (…) auch ein Indiz dafür sein, dass sie die Prozesse der Moderne nicht bereits hinreichend verarbeitet (S77) und die neuzeitliche Freiheitsthematik unzureichend bewältigt hat (vgl. Buchempfehlung Juni: Hubert Wolf, Der Unfehlbare, Pius IX).

Das Buch ist auch für theologische Laien in vielfältiger Hinsicht sehr anregend, versteht man dadurch, welche Themen und Aspekte theologische Wissenschaft durchdenken muss, um dem Thema Missbrauch gerecht zu werden.

September 2024

Ute Leimgruber et aliae (Hg.), Münster 2020

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Erzählen als Widerstand

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Bericht über spirituellen

Und sexuellen Missbrauch

an erwachsenen Frauen

in der katholischen Kirche             

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Dieses 2020 erschienene wichtige Buch zeigt an der 2018 erschienen wegweisenden MHG-Studie über den Missbrauch in der kath. Kirche eine deutliche Lücke auf: Es fehlen Berichte zum Missbrauch von erwachsenen Frauen.

Diese Berichte liefert dieser Band eindrucksvoll: 23 Frauen (anonym) schildern ihre Leiderfahrungen. Das ist insofern wichtig, weil gerne vielfältig über Betroffene und dem, was nötig ist für sie, gesprochen und geschrieben wird, aber die Betroffenen aus Scham jahrelang schweigen oder ihre Erfahrungen verschwiegen werden. Dies gilt besonders für Frauen, die ja doppelt der Macht ausgeliefert sind: Sie gelten in der Gesellschaft als den Männern nachrangig und in der Kirche als nicht ernst genommen.

Den Missbrauch beim Namen zu nennen ist Widerstand gegen die Taten und Widerstand gegen das Vertuschen. Es sind erschütternde Erzählungen über spirituellen und sexuellen Missbrauch, über den Missbrauch von Macht. Und es sind allgemein gültige Berichte, die allen Betroffenen, auch Männern, einen tiefen Einblick geben in das eigene Missbrauchserleben.

Wertvoll wird der Band auch durch die beigefügten theologischen Essays, denen eine Literaturliste jeweils angefügt ist. Um die Vielfalt der Themen anzugeben, seien vier genannt:

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Ute Leimgruber: Spiritueller und sexueller Missbrauch an erwachsenen Frauen. Was aus den Berichten von Betroffenen zu lernen ist.

Barbara Haslbeck: Warum haben die Frauen nicht nein gesagt? Psychotraumatologische und systemische Einsichten.

Hildegard König: Wenn Gottes Wort entweiht wird und sich zuletzt doch als heilsam erweist: Die Rolle der Heiligen Schrift in Missbrauchskontexten.

Barbara Haslbeck: Hinweise zum Gespräch mit Betroffenen

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Den Band schließen Informationen für Betroffene ab.

Dass für die Lektüre eine Triggerwarnung auszusprechen ist, versteht sich von selbst.

August 2024

Matthias Jügler, Maifliegenzeit, Roman, München 2024

 

Der schon mehrfach ausgezeichnete, junge Autor (geb. 1984 in Halle a.d. Saale) stammt aus der ehemaligen DDR und lebt in Leipzig.

Der gelobte Roman Maifliegenzeit lässt uns Betroffene mit zwei Zitaten aufhorchen: …„Ich rechnete damit, dass sie mich nicht ernst nehmen würden. Bisher hatte niemand mir Glauben geschenkt, warum sollte es nun anders sein? Ich konnte sie schon spüren, die nahende Ablehnung, das Misstrauen, mich und meine Geschichte betreffend…..“ (S. 71)  „Aber nur weil sich etwas dem Blick so konsequent entzieht, heißt das nicht, dass es nicht existiert….“ (S. 79)

Was der Autor damit meint, nennen wir Dunkelfeld und sekundäre Viktimisierung.

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Der Autor schreibt über eine Aufklärungslücke zu einem schrecklichen Geschehen in der DDR: vorgetäuschter Kindstod. Er spricht im Nachwort von drei aufgeklärten Fällen und 2000 vermuteten Fällen; das Geschehen, von dem er berichtet, ist ein tatsächlicher Fall als Vorbild.

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Der vorgeschobene Kindstod kurz nach der Geburt, um das Kind heimlich einer gewünschten Adoption zuzuführen, stürzt ein junges Elternpaar in einen Albtraum, der ihr Leben als Paar zerstört. Die Mutter will an den Tod nicht glauben, stirbt einen frühen Tod, der Vater leidet ebenfalls an diesem Verlust, gibt sich aber den Zweifeln an den Ärzten lange nicht hin, zumal man den Eltern einen Leichnam eines Kindes zur Bestattung übergeben hat. Viel später im Leben stößt er auf Fragen, die den Zweifel der Mutter bestätigen, und er gerät in die Suche nach seinem Sohn, den er für tot gehalten hat. Vater und Sohn finden sich, und jetzt beginnt die schwierige Phase der Annäherung.

 

Ein beeindruckender Roman, der auch sprachlich überzeugt und in der Naturbeschreibung über das Unstruttal südlich von Leipzig und Naumburg einen wunderbaren Kontrast zur Handlung herstellt. Der Titel des Buches wird dem Leser ganz bald erläutert, und die Allegorie des Angelns begleitet die Handlung bis zum Ende in überzeugender Weise.

Juli 2024

Hartmut von Sass, Atheistisch glauben. Ein theologischer Essay, Berlin 2023


Der Autor ist ev. Theologe und Philosoph, er lehrt an der Humboldt-Universität Berlin.

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Dieser Essay wirkt wie ein Gedankenspiel mit Gott, Mensch und Religion. Der Autor geht von der Frage aus, was „persönlicher Gott“ bedeutet und ob es diesen persönlichen Gott überhaupt geben kann. Denn in Religion und Glauben gibt es hinsichtlich eines persönlichen Gottes (=Theismus) unerklärbare Widersprüche:

  • Natur und Schöpfung sind zerstörend und gewalttätig, obwohl Gott Liebe und Allmacht bedeutet.
  • Das Böse existiert, obwohl Gott nur gut ist.
  • Gebete erreichen nichts (Friedenswallfahrten etc.).
  • Gott hilft niemals, er schützt nicht (Auschwitz).
  • Leugnung der Wissenschaften: vgl. Galileo Galilei, Giordano Bruno etc. Leugnung der Erkenntnisse der frühen Wissenschaften mit einer neuen Erklärung des Universums. Kirche will auf der Basis des Glaubens alle „Warum-Fragen“ beantworten, das ist Anmaßung und nicht ihr Bereich.
  • Erkenntnisse der Humanwissenschaften werden nicht akzeptiert, z. B. im Blick auf die Sexualität.
  • Nur Dogmen und Sakramente und absolute Autorität (s. Pius ix, Dogma der Unfehlbarkeit) gelten. Die Entwicklung der modernen Gesellschaften wird nicht zur Kenntnis genommen. Die Aufklärung wird bekämpft. Die Menschenrechtskonvention wird nicht unterschrieben.
  • Beichte: Bei Schuld muss man sich bei den Menschen entschuldigen, nicht bei Gott, und Entschädigung leisten. Sünde dagegen ist ein Vergehen gegen Gott und den Glauben an ihn.

Hartmut von Sass will aber den Schatz der Traditionen und Heiligen Schriften den Menschen erhalten, ohne dass sie freilich an einen persönlichen Gott glauben müssen. (Dies beschreibt offensichtlich die Situation des modernen Menschen, auch die vieler Betroffener)

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Der Autor definiert den Begriff „glauben“. Er geht von folgenden Möglichkeiten der Bedeutung und Verwendung aus:

Zum einen kann ich glauben, dass etwas ist, also irrtumsanfälliges, ungesichertes Für-Wahr-Halten. Glauben so verstanden wird zur gerechtfertigten wahren Meinung gemacht, wenn Kirche und Theologie wissenschaftliche Methoden anwenden. Daraus folgt aber nicht Wahrheit, sondern es bleibt weiterhin nur Meinung, die bestenfalls plausibel sein kann. 

Zum zweiten: jemandem glauben oder an jemanden glauben als Art der Beziehung zu jemandem, sich auf ihn verlassen. Sich auf Gott verlassen – aber siehe oben!

Und drittens – und das ist das Zentrum der Gedanken dieses Essays: Das Wort glauben kann modal verwendet werden: All mein Tun (handeln, leiden, betrachten, hoffen, erfahren) wird begleitet von „glauben“, d.h. die Art meines Tun ist ein „glaubendes“ Tun. Und dadurch verändern sich die Tätigkeiten:

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Mit Glauben:

Ich betrachte glaubend die Welt = aus der Welt wird die Schöpfung= ich gehe sorgsam mit der Welt um, setze mich gegen die Klimakrise ein, verändere mein Verhalten.

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Ich betrachte die Menschen um mich als Nächste, als Gottes Geschöpfe = aus dem Fremden wird der Nächste= ich behandle ihn in Nächstenliebe. Flüchtlingsproblem??

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Ohne Glauben:

Ich betrachte die Welt als Ökonom = Welt wird zur Ressource = Ich beute die Welt aus.

Als Tourismusmanager = Welt ist bloße Summe schöner, verkaufbarer Orte = großer negativer Einfluss auf die Welt durch Gewinnmaximierung

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Diese modale Art des Glaubens braucht nicht die Vorstellung eines persönlichen Gottes, trotzdem beeinflusst der Glaube so verstanden mein Tun, indem ich die Traditionen des Christentums verwende, mich aber entferne von den Widersprüchen, die sich aus dem Theismus ergeben (s.o.). Das bedeutet: Wie kann man sich Gott (kann ich die Bezeichnung noch verwenden?) vorstellen? Wir wissen es nicht! Und wir brauchen diese Vorstellung eines persönlichen Gottes auch nicht.

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Der Essay wirkt zuerst provozierend auf einen gläubigen Christen; wer den gedankenreichen und argumentativ überzeugenden Text aber durchdringt, gewinnt Erkenntnisse, die zu einer Freiheit von der Macht der Kirche führen und damit auch uns Betroffene befreien.

Juni 2024

Hubert Wolf, Der Unfehlbare, Pius IX

und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jhdt.

München 2020

 

Hubert Wolf ist Professor für Kirchengeschichte in Münster,

als Träger des Leibniz–Preises gehört er zu den herausragenden Wissenschaftlern Deutschlands.

Der Autor verfasste die Biographie des Papstes Giovanni Maria Mastai Ferretti aus Senigallia (1792 – 1878), Pius IX, der die längste Herrschaftszeit eines Papstes innehatte (1846 – 1878).

 

In Rezensionen zu diesem Werk wird darauf hingewiesen, dass die Kirche der Gegenwart ohne die Regierungszeit Pius IX nicht zu verstehen ist. Insofern liefert Hubert Wolf mit der Biographie Pius IX ein entscheidendes Kapitel zur Kirchengeschichte. Denn die Politik von Papst Pius IX wirkt bis in unsere Gegenwart.

Historisch gesehen steht die Zeit Pius IX parallel zum Risorgimento, der Gründung des Nationalstaates Italien durch Giuseppe Garibaldi und der Beendigung des Kirchenstaates in seinen bisherigen Grenzen. Dagegen kämpfte Papst Pius IX vehement an, indem er die Stellung Mariens, der Gottesmutter, als Beschützerin des Kirchenstaates heraushob, als er das Fest Mariä Empfängnis mit der Dogmatischen Bulle Ineffabilis Deus (1854) für den 8. Dezember verkündete, und zwar als Dogma der Unbefleckten Empfängnis Mariens (Immaculata conceptio) auf Grund eigener Macht ohne Zustimmung der Kirche (consensus ecclesiae). Von dieser Sonderstellung Mariens in der Heilsgeschichte erhoffte sich der Papst die Hilfe der Gottesmutter für den Erhalt des Kirchenstaates. Das Ergebnis war allerdings ein anderes: Es ergaben sich zunehmend Marienerscheinungen in Europa, z.B. im südfranzösischen Lourdes 1858.

 

Im Jahre 1864 am 8.12., dem Tag der Unbefleckten Empfängnis Mariens, veröffentlichte der Papst die Enzyklika Quanta cura, an dessen Ende der so genannte Syllabus errorum steht: Darin verdammt der Papst die Moderne und alle liberalen Ideen, besonders auch die der französischen Revolution: Besonders Satz 80 wird verdammt: „Der Römische Bischof kann und soll sich mit dem Fortschritt, mit dem Liberalismus und der modernen Kultur versöhnen und anfreunden.“

Der Freiburger Kirchenhistoriker Franz Xaver Kraus schreibt zu diesem Syllabus Errorum in seinem Tagebuch: „Ich brauche kaum zu sagen, wie unendlich wehmütig und traurig mich diese Enzyklika gemacht hat….., sie ist zum Teil gegen alle diejenigen gerichtet, die seit einem halben Jahrhundert die moderne Welt mit der Kirche zu versöhnen strebten,….gegen alle, die an die Möglichkeit glaubten, das Europa des 19. Jahrhunderts könne wieder sich aussöhnen mit Rom. Die Enzyklika ist … ein Sieg der reaktionären, neuscholastischen Partei, aber ein Sieg, von dem man sagen wird: Noch so ein Sieg, so ist alles verloren. Die Feinde der Kirche triumphieren über diese Zensur; denn sie haben nun, was sie wollten: den Beweis, dass die Katholische Kirche der Todfeind der Freiheit, der Wissenschaft und des Fortschrittes ist.“

 

I. Vatikanisches Konzil 1870. Mit den beiden Dogmatischen Konstitutiones Dei filius und Pastor aeternus verkündete der Papst das Unfehlbarkeitsdogma (Infallibilität) für den Papst, wenn er ex cathedra spricht, und setzt die Basis für das Universale Jurisdiktionsprimat: die absolute Macht und Amtsgewalt des Papstes über Lehre und Recht. Jede Kontrolle des Papstes ist aufgehoben, Gewaltenteilung ist nicht möglich. Alle anderen Kirchenmitglieder (von den Kardinälen bis zu den Laien) sind bloße Untertanen, die gehorchen, da der Papst das höchste Lehramt und die äußerste Rechtsbefugnis innehat. Das gilt bis heute. Deshalb ist der synodale Weg ohne Kirchenspaltung (Schisma) nicht durchzusetzen, da die letzte Entscheidung immer der Papst hat.

 

Das Werk von H. Wolf ist auch für Nicht-Theologen verständlich geschrieben, sehr durchschaubar gegliedert und vermag Spannung zu erzeugen, indem er den Leser mitnimmt in das Innere dieses Machtapparates und zeigt, wie sich Kirchengeschichte entwickelt. Ein Mann im Bewusstsein eigener Machtvollkommenheit errichtet nach der Französischen Revolution ein neues Kirchenverständnis, das abgeschottet ist von Moderne und Demokratie und gleichsam zum Bollwerk gegen die Modernisten und Traditionalisten innerhalb der Kirche wird: Pius IX. „Io, io sono la tradizione, io, io sono la Chiesa“ (Ich, ich bin die Tradition, ich, ich bin die Kirche.).

 

Dieses Werk von Hubert Wolf ist eine meisterhaft erzählte Biographie und allen interessierten Leserinnen und Lesern zu empfehlen, die verstehen wollen, warum das Papsttum die katholische Kirche so durchdringend prägt.

Mai 2024

Cordelia Edvardson,

Gebranntes Kind sucht das Feuer.

Mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann.

Neu übersetzt aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein, München 2023

Schwedische Originalausgabe Stockholm 1984;

deutsche Erstausgabe München 1986.

 

„Eines der großen Werke der Holocaust - Zeugenschaft“ (Daniel Kehlmann)

Triggerwarnung!

 

Die Autorin Cordelia Edvardson (1929 - 2012) ist die uneheliche Tochter der Schriftstellerin Elisabeth Langgässer (1899 - 1950), die, christlich orientiert, als Halbjüdin mit ihren Werken dennoch dem Nationalsozialismus und Hitler nahe stand.

 

Die Autorin C.E. nennt ihr Buch Roman, obwohl es ihre Geschichte ist, die sie in eindrücklicher Klarheit und sprachlicher Kunstfertigkeit erzählt. Es entsteht ein beklemmender Blick ins Innere der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie aus der Perspektive eines 14jährigen Mädchens, der Autorin. Zugleich ist es eine Geschichte von Mutter und Tochter in schwierigster Zeit.

Von ihren Eltern her ist die Autorin Halbjüdin; obwohl das Mädchen als Halbjüdin einigermaßen geschützt ist, kommt es zu einer entscheidenden Situation zwischen Mutter, Tochter und der Gestapo. Sie soll unterschreiben, dass sie Volljüdin ist, sonst wird ihre Mutter der Verfolgung durch die Nazis ausgesetzt. Ihre Mutter billigt es, ja verlangt es, und Cordelia unterschreibt. Die Mutter bleibt deshalb weiterhin unangetastet, aber das Mädchen wird in die Konzentrationslager Theresienstadt und Auschwitz gebracht. Diese Zeit der Hölle, die sie dort erwartet, beschreibt sie in unvorstellbarer Eindringlichkeit. „Wer solcher Grausamkeit unterworfen war, hörte darüber auf, als Individuum zu existieren“ (D. Kehlmann).

Die Autorin aber überlebt diese Hölle, und es gelingt ihr, nach dem Krieg in Schweden und Israel ihr Leben zurückzubekommen.

 

Einmal trifft sie ihre Mutter nochmals, als diese von ihr verlangt, ihre Eindrücke aus den KZ ihr genau zu schildern, weil sie diese für einen Roman brauche – eine unglaubliche, gefühllose Umgangsweise mit der eigenen Tochter.

Erst 35 Jahre nach Kriegsende konnte Cordelia Edvardson ihr Buch schreiben. Um Distanz zu sich selbst zu finden, benennt die Autorin sich mit dem Wort „das Mädchen“, nicht mit „ich“. Auch deshalb, weil ihre Geschichte stellvertretend ist für unzählige weitere Kinder, Mädchen und Jungen, in der Terrorzeit des Nationalsozialismus in Deutschland.

Doris Reisinger (Hg.)


Gefährliche Theologien

Wenn theologische Ansätze Machtmissbrauch legitimieren

Regensburg 2021

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Diesem Band liegt eine Tagung zugrunde: Machtkritik durch Theologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main im Jahre 2020; wegen Corona in reduzierter digitaler Form, nun allerdings in einem erweiterten Band zusammengefasst. Die Herausgeberin und Autorin eines Aufsatzes (S. 58 – 76) kennen wir schon von der Buchempfehlung im April.

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Der Titel ist doppelt zu verstehen, wie Frau Reisinger im Eingang vermittelt: Zum einen sind theologische Ansätze, Begriffe und Argumentationsmuster, die Gewalt gegen Menschen direkt oder indirekt befördern, verschleiern oder gar rechtfertigen, gefährliche Theologien. Zum anderen sind theologische Argumentationen, insofern sie den theologischen Unterbau von Machtmissbrauch entlarven, sichtbar machen und problematisieren, um gefährliche Theologien zurückzudrängen, für die gefährlich, die ein Interesse genau an solcher Theologie haben (s. den Band von Ute Leimgruber (Hg.), Empfehlungsbuch im September; daraus den Essay von Hildegard König: Wenn Gottes Wort entweiht wird…). Die Herausgeberin führt in ihrer Einleitung mit dem Titel Interdisziplinäre Denkschneisen in einer knappen aber präzisen und gut verständlichen Darstellung durch alle Aufsätze den Leser in den Kern des jeweils bearbeiteten Problems, um dem Leser eine Auswahl zu ermöglichen. Denn das Buch ist nicht von vorne bis zum Ende zu lesen, sondern in Auswahl.

Meine Auswahl begann mit dem Aufsatz von Frau Reisinger, der für uns Betroffene sofort ins Zentrum unserer Problematik führt: Religiöse Eigenlogik und ihre Konsequenzen. Eine Analyse der katholischen Mehrdeutigkeit des Missbrauchsbegriffs, S 58 – 76.

Eine Diskussion führt nur dann zu Ergebnissen für beide Gesprächsteilnehmer, wenn beide Seiten dieselbe Definition der wichtigen Begriffe haben. Frau Reisinger geht von einer zweifachen Bedeutung des Missbrauchsbegriffs aus: Zum einen Missbrauch in antonymer Bedeutung: Missbrauch von Steuergeldern, eines Amtes, einer Sache. Und zum anderen Missbrauch in personenbezogener Bedeutung als Eingriff in den Intimbereich einer Person gegen deren Willen, eine Verletzung der Autonomie dieser Person. Diese Verletzung setzt als Beurteilungsgrundlage die moderne Gesellschaft voraus: Grundlage ist das Ideal der verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmung, der Autonomie. Diese Autonomie ist der katholischen Sittenlehre nicht innewohnend, ja fremd, da jedes Verhalten durch die Kirche und ihre Sittenlehre vorgeschrieben ist. Das heißt, dass moderne weltliche Ordnungen dem Leitprinzip der Freiheit und Gleichheit folgen, während die kirchliche Ordnung dem Leitprinzip der Wahrheit und des Seelenheils folgt. Und deshalb findet sich im Kodex des kirchlichen Rechts das Wort Missbrauch nur in seiner antonymen Verwendung. Warum? Kurz gesagt, weil der Täter geschützt werden muss, da er sein Amt missbraucht, gegen das Gehorsamsgebot verstößt oder gegen das Enthaltsamkeitsgebot. Missbrauch wird eingeordnet unter klerikale Amtspflichtverletzungen. Der Betroffene kommt nicht als Opfer vor, weil sein Heil durch die Tat ja nicht in Gefahr kommt. Welche Absurdität.

Auch der nächste Aufsatz hat mich sehr beeindruckt: Georg Essen: In guter Verfassung? Ein rechtssoziologischer – dogmatischer Versuch über Macht, Recht und Freiheit. (S. 77 . 91). Man beachte etwa die Teil - Überschriften: Kirche in den Autonomiewelten der Moderne (S.77 ff.) oder Ordnung der Kirche – Ordnung der Freiheit (S. 99 – 91). Zitat: Die gegenwärtige Krise der römisch – katholischen Kirche dürfte (…) auch ein Indiz dafür sein, dass sie die Prozesse der Moderne nicht bereits hinreichend verarbeitet (S77) und die neuzeitliche Freiheitsthematik unzureichend bewältigt hat (vgl. Buchempfehlung Juni: Hubert Wolf, Der Unfehlbare, Pius IX).

Das Buch ist auch für theologische Laien in vielfältiger Hinsicht sehr anregend, versteht man dadurch, welche Themen und Aspekte theologische Wissenschaft durchdenken muss, um dem Thema Missbrauch gerecht zu werden.

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September 2024

Ute Leimgruber et aliae (Hg.), Münster 2020

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Erzählen als Widerstand

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Bericht über spirituellen

Und sexuellen Missbrauch

an erwachsenen Frauen

in der katholischen Kirche             

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Dieses 2020 erschienene wichtige Buch zeigt an der 2018 erschienen wegweisenden MHG-Studie über den Missbrauch in der kath. Kirche eine deutliche Lücke auf: Es fehlen Berichte zum Missbrauch von erwachsenen Frauen.

Diese Berichte liefert dieser Band eindrucksvoll: 23 Frauen (anonym) schildern ihre Leiderfahrungen. Das ist insofern wichtig, weil gerne vielfältig über Betroffene und dem, was nötig ist für sie, gesprochen und geschrieben wird, aber die Betroffenen aus Scham jahrelang schweigen oder ihre Erfahrungen verschwiegen werden. Dies gilt besonders für Frauen, die ja doppelt der Macht ausgeliefert sind: Sie gelten in der Gesellschaft als den Männern nachrangig und in der Kirche als nicht ernst genommen.

Den Missbrauch beim Namen zu nennen ist Widerstand gegen die Taten und Widerstand gegen das Vertuschen. Es sind erschütternde Erzählungen über spirituellen und sexuellen Missbrauch, über den Missbrauch von Macht. Und es sind allgemein gültige Berichte, die allen Betroffenen, auch Männern, einen tiefen Einblick geben in das eigene Missbrauchserleben.

Wertvoll wird der Band auch durch die beigefügten theologischen Essays, denen eine Literaturliste jeweils angefügt ist. Um die Vielfalt der Themen anzugeben, seien vier genannt:

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Ute Leimgruber: Spiritueller und sexueller Missbrauch an erwachsenen Frauen. Was aus den Berichten von Betroffenen zu lernen ist.

Barbara Haslbeck: Warum haben die Frauen nicht nein gesagt? Psychotraumatologische und systemische Einsichten.

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Hildegard König: Wenn Gottes Wort entweiht wird und sich zuletzt doch als heilsam erweist: Die Rolle der Heiligen Schrift in Missbrauchskontexten.

Barbara Haslbeck: Hinweise zum Gespräch mit Betroffenen

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Den Band schließen Informationen für Betroffene ab.

Dass für die Lektüre eine Triggerwarnung auszusprechen ist, versteht sich von selbst.

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August 2024

Matthias Jügler, Maifliegenzeit, Roman, München 2024

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Der schon mehrfach ausgezeichnete, junge Autor (geb. 1984 in Halle a.d. Saale) stammt aus der ehemaligen DDR und lebt in Leipzig.

Der gelobte Roman Maifliegenzeit lässt uns Betroffene mit zwei Zitaten aufhorchen: …„Ich rechnete damit, dass sie mich nicht ernst nehmen würden. Bisher hatte niemand mir Glauben geschenkt, warum sollte es nun anders sein? Ich konnte sie schon spüren, die nahende Ablehnung, das Misstrauen, mich und meine Geschichte betreffend…..“ (S. 71)   „Aber nur weil sich etwas dem Blick so konsequent entzieht, heißt das nicht, dass es nicht existiert….“ (S. 79)

Was der Autor damit meint, nennen wir Dunkelfeld und sekundäre Viktimisierung.

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Der Autor schreibt über eine Aufklärungslücke zu einem schrecklichen Geschehen in der DDR: vorgetäuschter Kindstod. Er spricht im Nachwort von drei aufgeklärten Fällen und 2000 vermuteten Fällen; das Geschehen, von dem er berichtet, ist ein tatsächlicher Fall als Vorbild.

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Der vorgeschobene Kindstod kurz nach der Geburt, um das Kind heimlich einer gewünschten Adoption zuzuführen, stürzt ein junges Elternpaar in einen Albtraum, der ihr Leben als Paar zerstört. Die Mutter will an den Tod nicht glauben, stirbt einen frühen Tod, der Vater leidet ebenfalls an diesem Verlust, gibt sich aber den Zweifeln an den Ärzten lange nicht hin, zumal man den Eltern einen Leichnam eines Kindes zur Bestattung übergeben hat. Viel später im Leben stößt er auf Fragen, die den Zweifel der Mutter bestätigen, und er gerät in die Suche nach seinem Sohn, den er für tot gehalten hat. Vater und Sohn finden sich, und jetzt beginnt die schwierige Phase der Annäherung.

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Ein beeindruckender Roman, der auch sprachlich überzeugt und in der Naturbeschreibung über das Unstruttal südlich von Leipzig und Naumburg einen wunderbaren Kontrast zur Handlung herstellt. Der Titel des Buches wird dem Leser ganz bald erläutert, und die Allegorie des Angelns begleitet die Handlung bis zum Ende in überzeugender Weise.

Juli 2024

 Hartmut von Sass, Atheistisch glauben. Ein theologischer Essay, Berlin 2023

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Der Autor ist ev. Theologe und Philosoph, er lehrt an der Humboldt-Universität Berlin.

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Dieser Essay wirkt wie ein Gedankenspiel mit Gott, Mensch und Religion. Der Autor geht von der Frage aus, was „persönlicher Gott“ bedeutet und ob es diesen persönlichen Gott überhaupt geben kann. Denn in Religion und Glauben gibt es hinsichtlich eines persönlichen Gottes (=Theismus) unerklärbare Widersprüche:

  • Natur und Schöpfung sind zerstörend und gewalttätig, obwohl Gott Liebe und Allmacht bedeutet.
  • Das Böse existiert, obwohl Gott nur gut ist.
  • Gebete erreichen nichts (Friedenswallfahrten etc.).
  • Gott hilft niemals, er schützt nicht (Auschwitz).
  • Leugnung der Wissenschaften: vgl. Galileo Galilei, Giordano Bruno etc. Leugnung der Erkenntnisse der frühen Wissenschaften mit einer neuen Erklärung des Universums. Kirche will auf der Basis des Glaubens alle „Warum-Fragen“ beantworten, das ist Anmaßung und nicht ihr Bereich.
  • Erkenntnisse der Humanwissenschaften werden nicht akzeptiert, z. B. im Blick auf die Sexualität.
  • Nur Dogmen und Sakramente und absolute Autorität (s. Pius ix, Dogma der Unfehlbarkeit) gelten. Die Entwicklung der modernen Gesellschaften wird nicht zur Kenntnis genommen. Die Aufklärung wird bekämpft. Die Menschenrechtskonvention wird nicht unterschrieben.
  • Beichte: Bei Schuld muss man sich bei den Menschen entschuldigen, nicht bei Gott, und Entschädigung leisten. Sünde dagegen ist ein Vergehen gegen Gott und den Glauben an ihn.

Hartmut von Sass will aber den Schatz der Traditionen und Heiligen Schriften den Menschen erhalten, ohne dass sie freilich an einen persönlichen Gott glauben müssen. (Dies beschreibt offensichtlich die Situation des modernen Menschen, auch die vieler Betroffener)

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Der Autor definiert den Begriff „glauben“. Er geht von folgenden Möglichkeiten der Bedeutung und Verwendung aus:

Zum einen kann ich glauben, dass etwas ist, also irrtumsanfälliges, ungesichertes Für-Wahr-Halten. Glauben so verstanden wird zur gerechtfertigten wahren Meinung gemacht, wenn Kirche und Theologie wissenschaftliche Methoden anwenden. Daraus folgt aber nicht Wahrheit, sondern es bleibt weiterhin nur Meinung, die bestenfalls plausibel sein kann. 

Zum zweiten: jemandem glauben oder an jemanden glauben als Art der Beziehung zu jemandem, sich auf ihn verlassen. Sich auf Gott verlassen – aber siehe oben!

Und drittens – und das ist das Zentrum der Gedanken dieses Essays: Das Wort glauben kann modal verwendet werden: All mein Tun (handeln, leiden, betrachten, hoffen, erfahren) wird begleitet von „glauben“, d.h. die Art meines Tun ist ein „glaubendes“ Tun. Und dadurch verändern sich die Tätigkeiten:

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Mit Glauben:

Ich betrachte glaubend die Welt = aus der Welt wird die Schöpfung= ich gehe sorgsam mit der Welt um, setze mich gegen die Klimakrise ein, verändere mein Verhalten.

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Ich betrachte die Menschen um mich als Nächste, als Gottes Geschöpfe = aus dem Fremden wird der Nächste= ich behandle ihn in Nächstenliebe. Flüchtlingsproblem??

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Ohne Glauben:

Ich betrachte die Welt als Ökonom = Welt wird zur Ressource = Ich beute die Welt aus.

Als Tourismusmanager = Welt ist bloße Summe schöner, verkaufbarer Orte = großer negativer Einfluss auf die Welt durch Gewinnmaximierung

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Diese modale Art des Glaubens braucht nicht die Vorstellung eines persönlichen Gottes, trotzdem beeinflusst der Glaube so verstanden mein Tun, indem ich die Traditionen des Christentums verwende, mich aber entferne von den Widersprüchen, die sich aus dem Theismus ergeben (s.o.). Das bedeutet: Wie kann man sich Gott (kann ich die Bezeichnung noch verwenden?) vorstellen? Wir wissen es nicht! Und wir brauchen diese Vorstellung eines persönlichen Gottes auch nicht.

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Der Essay wirkt zuerst provozierend auf einen gläubigen Christen; wer den gedankenreichen und argumentativ überzeugenden Text aber durchdringt, gewinnt Erkenntnisse, die zu einer Freiheit von der Macht der Kirche führen und damit auch uns Betroffene befreien.

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Juni 2024

Hubert Wolf, Der Unfehlbare, Pius IX

und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jhdt.

München 2020

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Hubert Wolf ist Professor für Kirchengeschichte in Münster,

als Träger des Leibniz–Preises gehört er zu den herausragenden Wissenschaftlern Deutschlands.

Der Autor verfasste die Biographie des Papstes Giovanni Maria Mastai Ferretti aus Senigallia (1792 – 1878), Pius IX, der die längste Herrschaftszeit eines Papstes innehatte (1846 – 1878).

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In Rezensionen zu diesem Werk wird darauf hingewiesen, dass die Kirche der Gegenwart ohne die Regierungszeit Pius IX nicht zu verstehen ist. Insofern liefert Hubert Wolf mit der Biographie Pius IX ein entscheidendes Kapitel zur Kirchengeschichte. Denn die Politik von Papst Pius IX wirkt bis in unsere Gegenwart.

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Drei inhaltliche Bereiche sind hervorzuheben:

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Historisch gesehen steht die Zeit Pius IX parallel zum Risorgimento, der Gründung des Nationalstaates Italien durch Giuseppe Garibaldi und der

Beendigungdes Kirchenstaates in seinen bisherigen Grenzen. Dagegen kämpfte Papst Pius IX vehement an, indem er die Stellung Mariens, der Gottesmutter, als Beschützerin des Kirchenstaates heraushob, als er das Fest Mariä Empfängnis mit der Dogmatischen Bulle Ineffabilis Deus (1854) für den 8. Dezember verkündete, und zwar als Dogma der Unbefleckten Empfängnis Mariens (Immaculata conceptio) auf Grund eigener Macht ohne Zustimmung der Kirche (consensus ecclesiae). Von dieser Sonderstellung Mariens in der Heilsgeschichte erhoffte sich der Papst die Hilfe der Gottesmutter für den Erhalt des Kirchenstaates. Das Ergebnis war allerdings ein anderes: Es ergaben sich zunehmend Marienerscheinungen in Europa, z.B. im südfranzösischen Lourdes 1858.

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Im Jahre 1864 am 8.12., dem Tag der Unbefleckten Empfängnis Mariens, veröffentlichte der Papst die Enzyklika Quanta cura, an dessen Ende der so genannte Syllabus errorum steht: Darin verdammt der Papst die Moderne und alle liberalen Ideen, besonders auch die der französischen Revolution: Besonders Satz 80 wird verdammt: „Der Römische Bischof kann und soll sich mit dem Fortschritt, mit dem Liberalismus und der modernen Kultur versöhnen und anfreunden.“

Der Freiburger Kirchenhistoriker Franz Xaver Kraus schreibt zu diesem Syllabus Errorum in seinem Tagebuch: „Ich brauche kaum zu sagen, wie unendlich wehmütig und traurig mich diese Enzyklika gemacht hat….., sie ist zum Teil gegen alle diejenigen gerichtet, die seit einem halben Jahrhundert die moderne Welt mit der Kirche zu versöhnen strebten,….gegen alle, die an die Möglichkeit glaubten, das Europa des 19. Jahrhunderts könne wieder sich aussöhnen mit Rom. Die Enzyklika ist … ein Sieg der reaktionären, neuscholastischen Partei, aber ein Sieg, von dem man sagen wird: Noch so ein Sieg, so ist alles verloren. Die Feinde der Kirche triumphieren über diese Zensur; denn sie haben nun, was sie wollten: den Beweis, dass die Katholische Kirche der Todfeind der Freiheit, der Wissenschaft und des Fortschrittes ist.“

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I. Vatikanisches Konzil 1870. Mit den beiden Dogmatischen Konstitutiones Dei filius und Pastor aeternus verkündete der Papst das Unfehlbarkeitsdogma (Infallibilität) für den Papst, wenn er ex cathedra spricht, und setzt die Basis für das Universale Jurisdiktionsprimat: die absolute Macht und Amtsgewalt des Papstes über Lehre und Recht. Jede Kontrolle des Papstes ist aufgehoben, Gewaltenteilung ist nicht möglich. Alle anderen Kirchenmitglieder (von den Kardinälen bis zu den Laien) sind bloße Untertanen, die gehorchen, da der Papst das höchste Lehramt und die äußerste Rechtsbefugnis innehat. Das gilt bis heute. Deshalb ist der synodale Weg ohne Kirchenspaltung (Schisma) nicht durchzusetzen, da die letzte Entscheidung immer der Papst hat.

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Das Werk von H. Wolf ist auch für Nicht-Theologen verständlich geschrieben, sehr durchschaubar gegliedert und vermag Spannung zu erzeugen, indem er den Leser mitnimmt in das Innere dieses Machtapparates und zeigt, wie sich Kirchengeschichte entwickelt. Ein Mann im Bewusstsein eigener Machtvollkommenheit errichtet nach der Französischen Revolution ein neues Kirchenverständnis, das abgeschottet ist von Moderne und Demokratie und gleichsam zum Bollwerk gegen die Modernisten und Traditionalisten innerhalb der Kirche wird: Pius IX. „Io, io sono la tradizione, io, io sono la Chiesa“ (Ich, ich bin die Tradition, ich, ich bin die Kirche.).

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Dieses Werk von Hubert Wolf ist eine meisterhaft erzählte Biographie und allen interessierten Leserinnen und Lesern zu empfehlen, die verstehen wollen, warum das Papsttum die katholische Kirche so durchdringend prägt.

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Mai 2024

Cordelia Edvardson, Gebranntes Kind sucht das Feuer.

Mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann.

Neu übersetzt aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein, München 2023

Schwedische Originalausgabe Stockholm 1984;

deutsche Erstausgabe München 1986.

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„Eines der großen Werke der Holocaust - Zeugenschaft“ (Daniel Kehlmann)

Triggerwarnung!

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Die Autorin Cordelia Edvardson (1929 - 2012) ist die uneheliche Tochter der Schriftstellerin Elisabeth Langgässer (1899 - 1950), die, christlich orientiert, als Halbjüdin mit ihren Werken dennoch dem Nationalsozialismus und Hitler nahe stand.

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Die Autorin C.E. nennt ihr Buch Roman, obwohl es ihre Geschichte ist, die sie in eindrücklicher Klarheit und sprachlicher Kunstfertigkeit erzählt. Es entsteht ein beklemmender Blick ins Innere der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie aus der Perspektive eines 14jährigen Mädchens, der Autorin. Zugleich ist es eine Geschichte von Mutter und Tochter in schwierigster Zeit.

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April 2024

Doris Wagner (verh. Reisinger)

Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche, Freiburg 2019

 

Die Autorin gehörte nach dem Abitur acht Jahre der „Geistlichen Familie Das Werk“ an. Auf der Basis eigener Erfahrungen aus dieser Zeit und mit vielfältigen Schilderungen von Betroffenen behandelt sie das Thema Spiritualität in allen Aspekten.

Doris Reisinger hat  Theologie und Philosophie studiert, wurde promoviert, ist an verschiedenen Universitäten im In- und Ausland tätig und veröffentlicht Bücher und Aufsätze zum Thema Missbrauch. Bekannt wurde sie durch ein live übertragenes Gespräch mit dem Wiener Kardinal Schönborn über ihre Missbrauchsgeschichte.

Im ersten Abschnitt ihres Buches definiert die Autorin den Begriff Spiritualität, grenzt ihn von Esoterik genau ab und sieht in Spiritualität vor allem das Bedürfnis des Menschen nach Sinn: Spiritualität ist Sinnstiftung; das ist die Fähigkeit, Dingen und allem eine Bedeutung zu geben.

Spiritualität ist weder unbedingt religiös noch irrational, sondern ist zentraler Teil des denkenden und fühlenden Menschen. Der Mensch soll spirituell selbst bestimmt und handlungsfähig sein. Jedoch ist nicht jeder Mensch fähig, sich alle Ressourcen der Spiritualität zu erschließen; er braucht Hilfe. Genau hier kann sich aber ein Einfallstor für Missbrauch auftun. Die Autorin beschreibt drei Formen von geistlichem Missbrauch: Spirituelle Vernachlässigung – spirituelle Manipulation – spirituelle Gewalt; dazu gehören dann auch verschiedene Formen einer schlimmen Ausbeutung.

Wichtig ist nun: Wie kann man spirituellen Missbrauch erkennen und wie kann man sich davor schützen. Doris Reisinger nennt als grundlegende Fähigkeit die spirituelle Selbstbestimmung, die es ermöglicht, ohne Autoritäten und Zwängen die Sinnfindung und Sinngebung im eigenen Leben autonom vornehmen zu können.

In einem Schlussteil wird der Umgang der Kirche mit Spiritualität erläutert und die Gefahren werden aufgezeigt, die sich aus dem autoritären Selbstverständnis und Machtbewusstsein der Kirchenvertreter ergeben können.

Die Zitate von Betroffenen, mit denen Frau Reisinger ihre Darstellung erläutert und illustriert, sind erschütternd und unvorstellbar. Dieser dadurch hergestellte Perspektivenwechsel führt zur erwünschten Klarheit beim Leser.


„Es ist die Macht der Opfer, nicht länger zu schweigen.“ Carolin Emcke

April 2024

Doris Wagner (verh. Reisinger)

Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche, Freiburg 2019

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Die Autorin gehörte nach dem Abitur acht Jahre der „Geistlichen Familie Das Werk“ an. Auf der Basis eigener Erfahrungen aus dieser Zeit und mit vielfältigen Schilderungen von Betroffenen behandelt sie das Thema Spiritualität in allen Aspekten.

Doris Reisinger hat Theologie und Philosophie studiert, wurde promoviert, ist an verschiedenen Universitäten im In- und Ausland tätig und veröffentlicht Bücher und Aufsätze zum Thema Missbrauch. Bekannt wurde sie durch ein live übertragenes Gespräch mit dem Wiener Kardinal Schönborn über ihre Missbrauchsgeschichte.

Im ersten Abschnitt ihres Buches definiert die Autorin den Begriff Spiritualität, grenzt ihn von Esoterik genau ab und sieht in Spiritualität vor allem das Bedürfnis des Menschen nach Sinn: Spiritualität ist Sinnstiftung; das ist die Fähigkeit, Dingen und allem eine Bedeutung zu geben.

Spiritualität ist weder unbedingt religiös noch irrational, sondern ist zentraler Teil des denkenden und fühlenden Menschen.  Der Mensch soll spirituell selbst bestimmt und handlungsfähig sein. Jedoch ist nicht jeder Mensch fähig, sich alle Ressourcen der Spiritualität zu erschließen; er braucht Hilfe. Genau hier kann sich aber ein Einfallstor für Missbrauch auftun. Die Autorin beschreibt drei Formen von geistlichem Missbrauch: Spirituelle Vernachlässigung – spirituelle Manipulation – spirituelle Gewalt; dazu gehören dann auch verschiedene Formen einer schlimmen Ausbeutung.

Wichtig ist nun: Wie kann man spirituellen Missbrauch erkennen und wie kann man sich davor schützen. Doris Reisinger nennt als grundlegende Fähigkeit die spirituelle Selbstbestimmung, die es ermöglicht, ohne Autoritäten und Zwängen die Sinnfindung und Sinngebung im eigenen Leben autonom vornehmen zu können.

In einem Schlussteil wird der Umgang der Kirche mit Spiritualität erläutert und die Gefahren werden aufgezeigt, die sich aus dem autoritären Selbstverständnis und Machtbewusstsein der Kirchenvertreter ergeben können.

Die Zitate von Betroffenen, mit denen Frau Reisinger ihre Darstellung erläutert und illustriert, sind erschütternd und unvorstellbar. Dieser dadurch hergestellte Perspektivenwechsel führt zur erwünschten Klarheit beim Leser.

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„Es ist die Macht der Opfer, nicht länger zu schweigen.“ Carolin Emcke

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März

Claire Keegan, Kleine Dinge wie diese, 2022

Übersetzt aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser

 

Die irische Autorin Claire Keegan (geb. 1968) erzählt von einem Kohlenhändler, der durch harte Arbeit seiner Familie mit Frau und Töchtern ein gutes Auskommen erwirtschaftet. Er beliefert auch das im Ort ansässige Nonnenkloster. An einem Wintertag 1985 findet er beim Kohleliefern ein Mädchen, ängstlich, frierend, hungernd, in einem Schuppen eingesperrt. Sie erzählt ihm von ihrer schlimmen Situation im Kloster. Die Nonnen haben ihr das neugeborene Kind weggenommen, täglich muss sie in der Klosterwäscherei, der sogenannten Magdalenenwäscherei, über die Maßen hart arbeiten und wird ausgebeutet. Wer sich nicht an die strengen Regeln hält oder fliehen will, wird hart bestraft wie sie jetzt.

Der Mann will ihr helfen und führt sie ins Kloster, aber die Oberin leugnet alles, was erzählt wird. Er bemerkt die Macht der Kirche und ihren Einfluss auf die Menschen. Der Kohlenhändler ist sich bewusst, dass er der jungen Frau helfen muss gegen die Nonnen und die Kirche, aber zugleich weiß er, dass dies Auswirkungen auf sein Geschäft, auf seine Familie und ihn selbst haben wird in dieser von der Kirche abhängigen Gesellschaft.

Diese tiefe Gewissensnot des Mannes thematisiert die Autorin ohne direkt polemisierende Anklage gegen die Kirche, aber mit eindringlichen Hinweisen auf die von der Kirche ausgehenden Zwangs- und Missbrauchssituationen. Bei dem endgültigen Entschluss des Mannes, dem Mädchen zu helfen, stößt er auf seine eigene Geschichte.

Ein eindringlicher Roman, der in seiner erzählerischen Einfachheit zutiefst berührt.


Die englische Verfilmung dieses Romans Small Things like These startete 2024 die Berlinale.

Regie: Tim Mielants, Hauptdarsteller: Cillian Murphy

März 2024

Claire Keegan, Kleine Dinge wie diese, 2022

Übersetzt aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser

 

Die irische Autorin Claire Keegan (geb. 1968) erzählt von einem Kohlenhändler, der durch harte Arbeit seiner Familie mit Frau und Töchtern ein gutes Auskommen erwirtschaftet. Er beliefert auch das im Ort ansässige Nonnenkloster. An einem Wintertag 1985 findet er beim Kohleliefern ein Mädchen, ängstlich, frierend, hungernd, in einem Schuppen eingesperrt. Sie erzählt ihm von ihrer schlimmen Situation im Kloster. Die Nonnen haben ihr das neugeborene Kind weggenommen, täglich muss sie in der Klosterwäscherei, der sogenannten Magdalenenwäscherei, über die Maßen hart arbeiten und wird ausgebeutet. Wer sich nicht an die strengen Regeln hält oder fliehen will, wird hart bestraft wie sie jetzt.

Der Mann will ihr helfen und führt sie ins Kloster, aber die Oberin leugnet alles, was erzählt wird. Er bemerkt die Macht der Kirche und ihren Einfluss auf die Menschen. Der Kohlenhändler ist sich bewusst, dass er der jungen Frau helfen muss gegen die Nonnen und die Kirche, aber zugleich weiß er, dass dies Auswirkungen auf sein Geschäft, auf seine Familie und ihn selbst haben wird in dieser von der Kirche abhängigen Gesellschaft.

Diese tiefe Gewissensnot des Mannes thematisiert die Autorin ohne direkt polemisierende Anklage gegen die Kirche, aber mit eindringlichen Hinweisen auf die von der Kirche ausgehenden Zwangs- und Missbrauchssituationen. Bei dem endgültigen Entschluss des Mannes, dem Mädchen zu helfen, stößt er auf seine eigene Geschichte.

Ein eindringlicher Roman, der in seiner erzählerischen Einfachheit zutiefst berührt.


Die englische Verfilmung dieses Romans Small Things like These startete 2024 die Berlinale.

Regie: Tim Mielants, Hauptdarsteller: Cillian Murphy

März 2024

Claire Keegan, Kleine Dinge wie diese, 2022

Übersetzt aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser

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Die irische Autorin Claire Keegan (geb. 1968) erzählt von einem Kohlenhändler, der durch harte Arbeit seiner Familie mit Frau und Töchtern ein gutes Auskommen erwirtschaftet. Er beliefert auch das im Ort ansässige Nonnenkloster. An einem Wintertag 1985 findet er beim Kohleliefern ein Mädchen, ängstlich, frierend, hungernd, in einem Schuppen eingesperrt. Sie erzählt ihm von ihrer schlimmen Situation im Kloster. Die Nonnen haben ihr das neugeborene Kind weggenommen, täglich muss sie in der Klosterwäscherei, der sogenannten Magdalenenwäscherei, über die Maßen hart arbeiten und wird ausgebeutet. Wer sich nicht an die strengen Regeln hält oder fliehen will, wird hart bestraft wie sie jetzt.

Der Mann will ihr helfen und führt sie ins Kloster, aber die Oberin leugnet alles, was erzählt wird. Er bemerkt die Macht der Kirche und ihren Einfluss auf die Menschen. Der Kohlenhändler ist sich bewusst, dass er der jungen Frau helfen muss gegen die Nonnen und die Kirche, aber zugleich weiß er, dass dies Auswirkungen auf sein Geschäft, auf seine Familie und ihn selbst haben wird in dieser von der Kirche abhängigen Gesellschaft.

Diese tiefe Gewissensnot des Mannes thematisiert die Autorin ohne direkt polemisierende Anklage gegen die Kirche, aber mit eindringlichen Hinweisen auf die von der Kirche ausgehenden Zwangs- und Missbrauchssituationen. Bei dem endgültigen Entschluss des Mannes, dem Mädchen zu helfen, stößt er auf seine eigene Geschichte.

Ein eindringlicher Roman, der in seiner erzählerischen Einfachheit zutiefst berührt.

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Die englische Verfilmung dieses Romans Small Things like These startete 2024 die Berlinale.

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Regie: Tim Mielants, Hauptdarsteller: Cillian Murphy

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